19 Jun 2017 „Der kleinste gemeinsame Nenner“
Tanja Stascheck arbeitet im autismusspezifischen Wohnangebot Troppauer Straße. Stiftungsübergreifend bietet sie mit Kolleginnen und Kollegen zudem ein soziales Kompetenztraining für junge Menschen mit Autismus an. Unter dem Titel „Der kleinste gemeinsame Nenner“ ist nun ein Beitrag über ihre Tätigkeit im Fachmagazin des Bundesverbands Autismus Deutschland e.V. erschienen.
Positive Lebensbedingungen für Betroffene des Autismus-Spektrums und deren unmittelbares Umfeld schaffen – dies haben wir uns im Rahmen unserer autismusspezifischen Tätigkeit in der stationären Jugendhilfe zur Herzensaufgabe gemacht. Wir arbeiten in einer Jugendhilfeeinrichtung in Norddeutschland, in der wir seit 2005 Wohnangebote für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen initiieren und aufbauen. Im Rahmen unserer Arbeit konnten wir vielen Kindern und Jugendlichen und deren Familien zu einem möglichst selbstständigen und eigenverantwortlichen und gleichzeitig zufriedenen Leben verhelfen. Orientiert an Lebenswelt und Ressourcen der Kinder und Jugendlichen ist es die Aufgabe der Mitwirkenden, eine Brücke zwischen der Lebenswelt der autistischen Menschen und der neurotypischen Lebenswelt zu bauen und so zu gewährleisten, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu erarbeiten. Unsere Hauptaufgabe sehen wir hier darin, die Ressourcen in den Vordergrund zu stellen und, unter Einbeziehung der Fähigkeiten, in erster Linie den Leidensdruck auf Seiten der Betroffenen zu minimieren. Gleichwohl kann Leidensdruck auch das Anecken an die Bedürfnisse des neurotypischen Alltags bedeuten – das heißt für unsere pädagogische Arbeit, dass wir immer mit Augen des autistischen Individuums und der neurotypischen Gesellschaft wahrnehmen und abgleichen müssen. Häufig erleben wir, dass wir in unserer nicht autistischen Lebenswelt den Dingen andere Prioritäten beimessen, als unsere autistischen Bewohnerinnen und Bewohner. Etwas, das für Neurotypische absolut wichtig und richtig erscheint, kann auf der anderen Seite auf die von uns Betreuten unwichtig und bedeutungslos wirken. Hier können beim Aufeinandertreffen dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen größere Konflikte entstehen – beispielsweise bereits bei der Bedeutung von Begrüßungsritualen.
Wir sehen unsere Hauptaufgabe darin, hier den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, um den Betroffenen ein möglichst angenehmes Alltagsleben in einer von Respekt und Toleranz geprüften Umgebung zu ermöglichen. Der Arbeitsauftrag richtet sich nach unserem Verständnis nicht nur an Betroffene, sondern auch an deren Lebenswelt und die darin vorhandenen Akteure, denn gegenseitige Sensibilisierung verschafft eine Ebene der respektvollen Begegnung.
Wir können deshalb erfolgreich arbeiten, weil es uns gelingt, uns in die autistische Lebenswelt einzufühlen und gleichzeitig einen kleinen, aber wichtigen gemeinsamen Nenner zu berücksichtigen: Das gegenseitige Verständnis und der Mut zur Annäherung.
Von Tanja Stascheck